"SALZZUNGEN" Ein Schelmenroman!

1. Kapitel

Ende und Anfang

Der leicht abschüssige Basalt gepflasterte Marktplatz von Salzzungen, der in den letzten Jahren fast nur von  Frauen jeden Alters und alten Männern bevölkert war, war gefüllt mit jungen Männern, die nicht die Sprache der  Bewohner kleinen Stadt an diesem neunten April 1945 sprachen. Matte runde olivgrüne Helme mit Tarnnetzen  bewehrten die Köpfe der jungen Männer, die in Gruppen herum standen, auf Jeeps und Panzern lümmelten  oder einfach auf dem schwarzen Pflaster saßen und aus Konservendosen fettes Fleisch zu trocknen Keksen  aßen. Ihre Augen glänzten, fast alle Soldaten der 4. amerikanischen Panzerdivision sprachen vom Gold. Vom  Gold des fast untergegangenen Deutschen Reiches, das tonnenweise am Tag vorher in Merkers, in einem  Nachbarort in einer Kaligrube entdeckt wurde. Ich kenne dieses Ereignis nicht persönlich, es hat nur am Rande  mit mir zu tun. Mit Ereignissen, wo ein eben mal so nebenbei die Geschichte eines halben Jahrhunderts streift.  Die Weltgeschichte, die Landesgeschichte, Liebesgeschichten, ein fast goldiges Zeitalter ohne Krieg.

Mein Stammplatz in meiner Stammkneipe Café Stresemann in Berlin Kreuzberg ist ein Fensterplatz. Ein  schwarzer Thonetstuhl vor einem gusseisernen einbeinigen kleinen schwarzen Marmorplattentischchen. Gleich  links neben der Eingangstür auf einem kleinen Podest in einer schmalen Fensternische neben dem Tresen  und der Zeitschriftenablage. Von dort aus überblicke ich fast den kompletten Gastraum, den Tresen und nach  außen durch das Fenster den Askanischen Platz bis zur Ruine des Anhalter Bahnhofes. Das Gebäude, in dem  sich das Café Stresemann befindet, ist ein altes Gebäude aus den dreißiger Jahren des zwanzigsten  Jahrhunderts. Es scheint durch seinen Bauhausstil fast wie neu, wie erst vor wenigen Jahren gebaut. Neben  den Geräuschen des Cafés nimmt man durch das Fenster ganz schwach den Straßensound wahr. Je nach der  Ampelschaltung gibt es höhere Töne zu hören, wenn die Stresemannstraße auf Grün geschaltet ist. Tiefer  brummt es, wenn die Anhalterstraße grün hat. Auf dem zweiten Stuhl mir gegenüber sitzt Irene, eine junge  Frau, eine Journalistin, die ein goldglänzendes eingeschaltetes Diktiergerät langsam und sorgsam auf die ein  wenig zerkratzte schwarze Marmorplatte stellt. Es ist später Nachmittag und die tiefstehende  Spätsommerabendsonne scheint ihr seitlich in's Gesicht und blendet sie.

"Na dann legen sie mal los, Géza Haller " meint sie ganz locker mit linkem zugekniffenen Auge und nimmt die eben von der Kellnerin gebrachte bauchige große weiße Milchkaffeetasse zwischen ihre schlanken sorgsam manikürten Hände und führt sie vorsichtig zum schönen Mund. Ich muss lachen, denn sie hat jetzt einen grauweißen Schnauzbart vom Milchschaum über der Oberlippe. Sie hat jetzt einen Bart, so wie ich, nur meinen kann ich nicht einfach so wie sie weg lecken. "Meinen Bart habe ich mir das letzte mal vor zwanzig Jahren innerhalb meiner vierundsechzig Jahre ab rasiert und war sehr erschrocken, als ich ab dem Tag einen fremden Menschen im Spiegel gesehen hatte. Also habe ich ihn wieder wachsen lassen. Warum soll ich mit einer alten Tradition brechen. Mein Urgroßvater hatte einen Schnauzbart und mein Großvater auch".

"Und Ihr Vater hatte, der keinen?" "Nein, der hatte nie einen Bart, warum habe ich ihn net gefragt." "Der Ausdruck >>net gefragt<< Sie sind kein Berliner, wo sind ihre Wurzeln?" Ich nehme den Salzstreuer in die rechte Hand und halte ihn Ihr vor die Augen. "Thüringen, westliches Werratal, dort wo sich die südwestliche Terrasse des Thüringer Waldes und die nordöstlichen Vorberge der Rhön im Flußtal treffen, da kommt seit undenklichen Zeiten salziges Wasser, Sole aus der Erde und erzeugte wohlhabende Bürger. Um das salzige Wasser aus der Erde entstand eine kleine Stadt an einem sehr kleinem See, aus dessen Tiefen noch heute Salzwasser sprudelt und auch in kältesten Wintern diesen See nicht vollständig zufrieren lässt. Die Stadt am See und an der Werra heißt Salzzungen, Bad Salzzungen. Da komme ich her! Da bin ich aufgewachsen, da habe ich gelebt und ein Teil meiner Familie stammte aus dieser Gegend."

"Keine Ahnung, wo das ist, wo ist diese Gegend?" fragt sie, und grabscht in die kleine Schüssel mit den gesalzenen Erdnüssen.

"Na, in der Nähe von Eisenach, Gotha, Erfurt, halt auf der anderen Seite des Thüringer Waldes vom Osten aus betrachtet".

"Und von da sind auch alle verrückten Geschichten, die sie erlebt haben?"

"Nein, nicht ganz, einige Geschichten sind auch in anderen Regionen erlebt“.

Dann klingelt ihr Telefon. Sie hört eine halbe Minute zu, klappt das Handy zusammen und steht auf. "Ich muss dringend weg! Entschuldigung!" Zwei Tage später ruft sie noch einmal an. Sie unterdrückt Weinen beim Sprechen. Brustkrebs mit Metastasen im Körper bis zu den Zehen. Zwei Monate später ist sie eingeäschert und liegt neben dem Mausoleum des Schuhkreme Fabrikanten Lemm auf dem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Friedhof in Berlin-Charlottenburg, Fürstenbrunnerweg. Sie sah aus, wie die Trauernde mit Lyra von Hans Dammann für das Erbbegräbnis des Bankiers Ferdinand Warburg hundert Meter nördlich ihres Grabes. Sie sah aus wie meine zweite große Liebe, Traudl, deren Liebe sich an mir verschlissen hatte, lange bevor auch ihr Leben verschliss.


Lisa mit den schönen vollen Lippen, den seltenen grünen Augen kann nun nicht mehr meine Geschichte aufschreiben, die sie eh nur in vier Spalten auf einer Seite einer Wochenzeitschrift gequetscht hätte. Ein Jahr später, also heute, schreibt das jemand anders auf. Und packt es in ein Magazin, reduziert auf wenige EDV Abenteuer, die nur für EDV-affine Menschen abenteuerlich erscheinen. Im Resumé der Story meint er, er könnte eigentlich einen ganzen Roman um meine Geschichten herum backen, aber besser wäre, ich mach das.


Was macht man da? Man setzt sich selber hin und schreibt das auf. In linierte Stenografenkladden, in txt Daten eines Laptops, in ein Nokia Handy, in odt und doc Dateien unterschiedlichster Personalcomputer:


"Mich dürstet. Mich dürstet nach dem Salz des Lebens. Mich dürstet nach Salz auf meiner Zunge. Mich dürstet nach dem Salz auf meiner Seele. Mich dürstet nach Schönheit, nach Wärme nach Schmerz. Mich dürstetet nach Leben, ehe mich etwas wie die Lisa mit den grünen Augen ungefragt abschaltet."


Mich dürstet es immer noch! Ich hab gerade Durst auf ein herbes Bier. Sitze im Stresemann. Der Platz vor mir, wo Lisa saß, ist leer. Die Buchstaben der txt-Datei im Laptop sind auf vierzehn Punkt gestellt. Der Hintergrund ist grau. Meine Gedanken sind bunt.


Am neunten April 1945, an einem deutlich zu warmen Montag ist mein Großvater Richard Haller auf dem Marktplatz in Salzzungen unweit des Sees mit salzigen Schweißperlen auf seiner Stirn. Er hat eine alte schwarze lederne Lokomotivführermütze auf, trägt uralte französische Gamaschen unter seiner Spediteurslederschürze. Er ist neugierig. Amerikaner schaun, die seit dem 4. April in Salzzungen das Sagen haben. Vor achtzig Jahren streifte der letzte Krieg die Stadt. Einheiten der preußischen Mainarmee hatten Gefechtsberührungen mit bayrischen Einheiten bei Ettmarshausen, Roßdorf und Zella. Der Kanonendonner war deutlich in Salzzungen zu hören. Verstümmelte Verwundete aus diesen Gefechten füllten Krankenhaus und in Schule. Politisch gesehen hatte Salzzungen diesen letzten Krieg wie oft in der Geschichte verloren. Man gehörte politisch zu den Feinden Preußens, den Bayern.

Der Spediteur Richard Haller ist einundfünfzig Jahre alt. Er hat Erfahrung mit amerikanischen Soldaten. Als Fahrradkurier im ersten Weltkrieg schoss er auf sie, wenn sie ihm beim Kurierfahren störten. Irgendwann schnappten sie ihn, weil die Munition alle war, oder er war zu langsam, weil in dem Hinterrad im DUNLOP Schlauch keine Luft mehr war. Jetzt hat er wieder ein Fahrrad dabei. Mit Dunlop Schlauch und Reifen, mit einem Dunlop Ventil. Das Fahrrad ist ein Beutefahrrad vom US Bicycle Corp noch aus dem ersten Weltkrieg, wie die Gamaschen. Die Soldaten auf dem Marktplatz fahren alle auf Dunlop Reifen mit ihren Jeeps, mit ihren schweren Armeelastern. Ausgenommen die Panzer, die die Basaltsteine zerkratzen. Großvater hatte in der amerikanischen Gefangenschaft ein wenig Englisch gelernt und zeigt nun auf sein altes Fahrrad. Er braucht Flickzeug. Es gibt am Ende des zweiten Weltkrieges in Thüringen keine Gummilösung mehr, um Fahrradschläuche zu flicken. Für einen amerikanischen Soldaten, der denkt ein Deutscher, der ein amerikanisches Fahhrad fährt, kann kein Nazi sein. Er bekommt eine knallgelbe Literbüchse ungeöffnet mit feinster DRILASTIC Gummilösung aus einem Werkstattwagen. Die Dose reicht bis 1960. Da bin ich vierzehn Jahre alt.

Mein noch nicht Vater Robert Haller befindet sich an diesem Tag mit meiner noch nicht Mutter irgendwo in Deutschland von Bremen aus auf dem Weg hinter den Amerikanischen Truppen her nach Thüringen. Er hat sich in den letzten unübersichtlichen Kriegstagen aus der Wehrmacht mit feinen Papieren abgeseilt. Mein Onkel Géza, der Bruder meiner noch nicht Mutter, dessen Namen ich einmal tragen werde, und der nur noch zwei Monate zu leben hat, sitzt derweil mit einer entzündeten, operiertem Steckschußwunde vom ungarischen Kriegsmärz im Gebäude des Budapester Rundfunks und verliest täglich die von der russischen Kommandantur diktierten Nachrichten in Deutsch, Ungarisch und Russisch. Es sind viele Siegesnachrichten der Roten Armee, es sind wenige Siegesnachrichten der Amerikaner, Franzosen und Engländer.

Meine noch nicht ungarische Großmutter Maria hat zu dieser Zeit Probleme mit Bombenschäden an einem ihrer Mietshäuser in Budapest. Ein Dach ist von einer letzten russischen Brandbombe zum Teil abgebrannt. Es regnet in die vierte Etage, die bisher von Schäden wie Feuer und Wasser verschont war. Dunlop Gummilösung und Dunlop Betteinlagen aus einem Lazarett der Pfeilkreuzler halfen das Dach wenigstens provisorisch ab zu dichten. Sie war bei der Beerdigung von rund hundert erschossener Pfeilkreuzlerpatienten zwangsverpflichtet dabei. Die roten Gummitücher, mit denen die Leichen eingewickelt waren, waren ihr zu schade in einem Massengrab des Kerepesi Friedhof, in VIII. Fiumei út, in der Nähe des Ostbahnhofs zu verrotten. Sie wickelte mit einer Mieterin ihres Hauses aus der vierten Etage die Leichen wieder aus und nahm die Tücher mit nach Hause. Oma Maria war Pragmatikerin und warf nichts wertvolles weg, was Kälte und Nässe verhindern konnte.

Die Deutsche Großmutter Hulda, die am Nachmittag dieses Tages die Gummilösung als Betteltrophäe auf dem mit grünem Linoleum beklebten Küchentisch stehen hatte, war unpolitisch und uninteressiert für geschäftliches. Sie ist Freidenkerin und konnte per hochkomplizierter mathematischer Horoskopberechnungen weissagen. Als mein dicker deutscher Urgroßvater 1936 starb, rechnete sie das Ende des tausendjährigen Deutschen Reiches auf den Mai 1947 aus und ihr Mann, mein künftiger Großvater beendete die Mitgliedschaft im SA Reitersturm. Gesundheitlichen Gründe, bestätigt von Doktor Kapeller, organisierten konfliktlos den Ausstieg aus dieser Naziorganisation. Fortan stellte er für Haferlieferungen und Beherbergung von SA Pferden Rechnungen aus, die nie bezahlt wurden. Hulda hatte sich um ein Jahr verrechnet.

Die deutsche Besatzung im zerstörten Königsberg kapituliert vor den Einheiten der 3. Weißrussischen Front der Roten Armee an diesem 9. April. Im deutschen Konzentrationslager Flossenbürg werden der deutsche evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer und der ehemalige Chef der deutschen Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, hingerichtet. Britische Truppen unternehmen in Italien eine Großoffensive gegen die deutschen Stellungen im Raum von Argenta und Ferrara. Die am 3. Januar ernannte griechische Regierung unter General Nikolaos Plastiras tritt zurück; Nachfolger wird der Oberbefehlshaber der griechischen Flotte, Petros Vulgaris." Budapest ist voll in russischer Hand. Der GRÖFAZ, Aldolf Hitler, größter Führer aller Zeiten hat noch rund zwanzig Tage zu leben.

Der Beginn der Besatzungszeit war keine überaus große Zäsur in der Stadt, außer dass nun endlich wieder Frieden war. Die Kriegszerstörungen waren in einem erträglichen Rahmen geblieben. Ein Munitionszug flog am Güterbahnhof nach einem Tieffliegerangriff in die Luft. Zerstörte Teile der Gleisanlagen und des Güterbahnhofes. Die Husenirche, in der die Eltern Martin Luthers getraut wurden, blieb als Ruine zurück. Eine Bombe traf ein Beamtenmietshaus der Reichsbahn und fegte die Ziegel des Hotel Wältz in den Hotelgarten.


Der Glasbruch, der an den Fenstern bei den Explosionen entstand, war vielen Bürgern bedeutsamer. Glas war knapp geworden im Krieg. Die 16 Toten des Unglücks waren schnell beerdigt, oder im noch halb intakten Krematorium verbrannt. Voll war die Stadt schon seit Wochen mit evakuierten und geflüchteten Menschen des Reiches, das an diesem Tag auf Reste von Sachsen Anhalt und Reste Preußens zusammengeschrumpft war. Die Kriegskarte im Rathaus war seit einem Jahr auf Befehl Gauleiter Sauckels auf den Boden gewandert, um das Schrumpfen des Landes kurz vor dem Endsieg nicht mehr öffentlich zu dokumentieren. Inzwischen hieß Gauleiter Sauckel hinter vorgehaltener Hand "Sauleiter Gauckel". Ein paar Schüler der mittleren Klassen aus besserem Hause, aus den Häusern der "Schönen Bürger" hatten noch die Endsiegkarte in ihren Kinderzimmern hängen. Die Fähnchen der Panzersiege waren an den Rand der Karte gepiekt. Es gab keine Panzersiege mehr. Die Karten der Unter- und Oberprima Schüler des Gymnasiums waren verweist. Die Schüler waren eingezogen und lagen inzwischen zerfetzt von russischen Granaten im Kessel von Halbe.


Im Radio dudelte seit Tagen amerikanische Musik von Militärsendern, die inzwischen fast alle Frequenzen besetzt hatten, unterbrochen von schrecklichen Nachrichten, die wenige glaubten. Juden und Gefangene wären von den Nazis in Gaskesseln gebraten und gekocht wurden.Das war Übersetzungsfehlern geschuldet. Der Begriff "Vergasen" kam bis dahin in der Deutschen Sprache in diesem Zusammenhang noch nicht vor. Die erschossenen gefangenen amerikanischen Soldaten der Ardennenoffensive wurde noch vom Langwellen Reichsender Berlin als Kriegsgreul und finterste Lügenpropaganda bezeichnet. Man berichtete täglich von unsäglichem Greul im Osten und dem Endsieg in den nächsten Tagen, sowie kommenden herrlichen Zeiten. Im Verhältnis zu den Bürgern einer Großstadt ist in Notzeiten der Kleinstadtbürger besseren Bedingungen untergeordnet. Im ländlichen Raum gab es damals sehr viele Ackerbürger. Viele haben Land, Gärten oder verwandtschaftliche und nicht verwandtschaftliche Beziehungen zu Gemüse, Obst, Eiern, Korn und manchmal auch zu Fleisch. Die wirtschaftliche und soziale Struktur ist kaum angetastet. So war es seit fast hundert Jahren und so wir es wohl auch bleiben denken fast alle.


Als am fünften April, ein Tag nach der kampflosen Besetzung der Stadt ein amerikanischer Soldat anfing, seine Angel in den Burgsee zu hängen, gab es wieder Fisch. Seit zwei Jahren war Angeln kriegsbewirtschaftet. Die geangelten Karpfen mussten ohne Ausnahme ab gegeben werden. Aal, Karpfen, Plötze fand nur noch bei ganz mutigen den Weg in die eigene Pfanne, weil sie weitab von der Stadt in der Werra wilderten. Nun angeln wieder alle, die angeln können. Die Schule ist geschlossen. Die Angeln der Väter, die im Krieg sind, werden von den Söhnen reaktiviert.


In den Wäldern rund um das Werratal gab es noch einige versprengte SS-Einheiten. Keine kriegserfahrenen Soldaten der Kampfeinheiten der Wehrmacht, sondern verführte Jugendliche, Verwaltungsbonzen der SS, denen man das Sturmgewehr 44 um den Hals gehangen hatte, um den Endsieg zu herbei zu ballern. Schoss auch nur einer dieser „Helden“ auf die anrückenden Kampfverbände heimtückisch aus dem Thüringer Busch, kamen Tiefflieger mit Asphalt-Streubomben oder es löste sich unauffällig eine kleine amerikanische Spezialeinheit von diesen Verbänden und machte diesem Spuck ein schreckliches Ende. Die Soldaten dieser Einheit sprachen thüringer/sächsisches Deutsch. Sie fuhren leise mit Fahrrädern in den Wald, riefen nach den unerfahrenen SS-Heckenschützen, die nicht ahnten, dass diese amerikanischen Soldaten aus Erfurt, Gera, Leipzig waren und nicht Heinz, Horst und Erich hießen. Sie nannten sich Schmuel, David oder Samuel. Schmuel, David oder Samuel machten keine Gefangene. Sie erschossen diese sie, plünderten die Rucksäcke und Hosentaschen und schnitten auch manchmal die Ohren ab, um sie dann am Jeep in der Frühlingssonne zu trocknen.


Die Unordnung der ersten Tage der Besatzung erzeugte Unordnungen vielfältiger Art. Kein Zug fuhr mehr im Werratal, kein deutsches Kraftfahrzeug, kaum Pferde- und Ochsenfuhrwerke. Es gab nur noch Menschenfuhrwerke mit den Schubkarren und Bollerwagen der Flüchtlinge, deren Hab und Gut in den Straßengräben lag, weil die Kraft nachließ Notwendiges weiter mit zu führen.

Die Straßengräben waren gefüllt mit Betten, Rucksäcken, Geschirr, Hausrat aller Art. Alleswar zerplündert, geplündert. Mancher Rucksack wurde mehrfach zerfleddert, um wenige Meter weiter wieder auf einem Feld neu verteilt zu werden, weil ein anderes Behältnis für den Plünderer neue Nützlichkeiten zum weg tragen nicht nur erahnen ließ. Es plündern alle. Amerikanische Soldaten zwischen ihrer Rast, "Fremdarbeiter", die auf den Heimweg in alle Himmelsrichtungen sind. Nach Polen, nach Frankreich, nach Italien, nach Dänemark. Deutsche und Italienische Kriegsgefangene können auch alles gebrauchen. Sie haben bei der Gefangennahme ihre Ausrüstung verloren. Sie brauchen Schuhe, Mäntel, Gürtel, Blechflaschen, Eßgeschirr, Konservendosen, Zuckersäcke, Hafersäcke, Brotreste, Kartoffeln, Salz. Den Rest klauben Kinder und Jugendliche aus der Stadt und den Nachbargemeinden zusammen. Seit wenigen Tagen sind sie in kleinen Gruppen, fast schon bandenmäßig auf "ihren" Kriegszug, der "Besorgen!" benannt wird.


Neben der Unordnung ging die Ordnung in der Stadt weiter. Manches blieb, manches ordnete sich völlig neu. Die Maschinenfabrik Erbel, die Getriebeteile für Panzer und U-Boot Motoren produzierte, stellte innerhalb weniger Tage die komplette Kriegsproduktion auf Bergbaumaschinenteile und gußeiserne Tischbeine um. An einem einzigen Tag wurden im Hochofen, der Graugußeisen und Aluminium schmolz, alle Gießformen für die Kriegsmotoren verbrannt. Produktionsunterlagen, Lohnabrechnungen, Versicherungsunterlagen. Ein Nebengebäude wurde versehentlich mit angezündet und die fehlenden verbrannten Unterlagen wurden am 8. April ordnungsgemäß als Brandschaden den zuständigen Versicherungen gemeldet. Der Melder war Brandmeister der Salzzunger Freiwilligen Feuerwehr, Meister in der Maschinenfabrik und letzter stellvertretender Führer des SA Reitersturms. Am folgendem Tag kramte er sein Parteibuch der Kommunistischen Partei aus einem Kellerversteck. Mit durch den Schornstein verrauchten die Mitgliedslisten der NSDAP, der SA, der örtlichen SS Führer. Vieles was künftig belastbar sein könnte, verwandelte sich in Wärmeenergie und Aluminiumpumpengehäuse für den Salzbergbau. Alles was mit Salz zu tun hatte, war sauber, war ungefährlich, war nutzvoll in der kommenden Nachkriegszeit.


Manches brauchte man wenig zu ändern. Die Klosterbrauerei, die sowieso nur mit viertel Kraft Bier braute, entdeckte die Kartoffel und inserierte nach verfaulten Kartoffeln am schwarzen Brett am Rathaus für die Destilieranlage. Für einen Zentner verfaulte Kartoffeln gab es einen halben Liter Dreißig Prozentigen Schnaps. Schnaps- und Marmeladen-Einhorn blieb beim Rübensirup. In den Gärtnereien spross der erste Frühlingssalat und Brunnenkresse in den Glasgewächshäusern. Die Zigarrenfabrick Eckardt und Söhne war auf Zigarettentabak umgestellt. Die Tabakvorräte reichten noch bis zum Sommer. Danach wollte man weiter sehen. Leimriedel, der Kuh- und Schweineabfälle zu Leim verkochte, kochte einen miesen Leim, weil man alle Knochen bis auf die Knochen abnagte. Die Firma Handgranatenkrieger machte eh schon seit 1944 keine Handgranatenstile mehr. Man drechselte wieder Besenstile, weil die bucklige Verwandschaft vom Gauleiter Sauckel in Saalfeld die Aufträge zu geschustert bekam. Die Deutsche Muser & Meuser Handelszentrale Textil, hatte seit einem Jahr keine Stoffe mehr von Salzzungen aus zu handeln. Eine Hälfte der Unternehmerfamile war vor dem Krieg in die USA ausgewandert, die andere Hälfte saß in der Schweiz und schickte Militär-Drillichstoff egal wohin, wen es gut bezahlt wurde. Zum Rüstungsamt nach Koblenz, nach Rom vor und nach Mussolini.


Drillich ging nach Griechenland zu Petrus Vulgaris. Der "Heilige Petrus" war Chef der griechischen Flotte und der Stoff war für seine Marinesoldaten. Am 9. April wurde er Chef der griechischen Regierung und die Handelsbeziehungen der MMHZ wurden damit geadelt. Das komplette griechische Militär bekam nun Klamottenstoff der MMHZ.

Der traditionelle Kurbetrieb, der Hauptwirtschaftszweig litt ein wenig, weil es seit drei Jahren auf Lazarett umgestellt war. Seit Weihnachten wurde kein Sold und kein Lohn mehr gezahlt. Seit Weihnachten war Kohle und Holz im Krematorium knapp und man hörte auf die abgeschnittenen Arme und Beine der Lazarette täglich zu kremieren. Man wartete nun auf eine der wenigen fetten voluminösen Leichen, wozu einige Beine und Arme dazu geschichtet wurden..


Siebenunddreißig Gaststätten und siebenunddreißig Schneider, davon vierundzwanzig Damenkleidermacherinnen kommen auf rund siebentausend Einwohner. So fünftausend Gäste, Flüchtlinge, Lazarettinsassen kommen ungezählt dazu. Man ist im ehemaligen Silberstädtchen gut gekleidet. Die sozioökonomische Struktur von Salzzungen ist seit Dreihundert Jahren konstant. Eine stabile Mittelschicht aus Handwerkern und Händlern regiert die Geschicke der Stadt. Eine kleine Oberschicht des Adels hatte im 17. und 18. Jahrhundert wenig Einfluss. Lediglich einige Anteile der Salzgewinnung konnten sie abzweigen. Der gehobene Wohlstand des Silberstädtchens aus dem Mittelalter war mit dem Stadtbrand von 1768 verpufft. Das Silber war verschwunden und die sogenannten schönen Bürger wurden pekuniär gesehen ein wenig hässlich. Die heutige Bezeichnung "Die Schönen und die Reichen" hatte man schon im Mittelalter in Salzzungen auf die "Schönen" reduziert.


Das Kino ist seit einem Monat geschlossen, im Kurtheater geht seit einem Jahr kein Vorhang mehr hoch. Mit das letzte Theaterereignis war 1939 Ibsens "Hedda Gabler", wozu das Salzzunger Tageblatt tönte: "In Hedda Gabler häufen sich die Probleme der Ehe und Gesellschaftsform, wie sie Ibsen vorschwebt. Die Tochter des Generals ist schlecht erzogen und hat keinen Sinn für Häuslichkeit und Mutternschaft. Lediglich der Versorgung wegen heiratet sie einen ungeliebten , ihr wesensfremden Mann. Die Vorstellungen, welche diese schöne Megäre vom Leben hat, sind phantastisch, ihr Triebleben ist krankhaft und sadistisch." In Berlin formulierte die Berliner Ilustrierte es drastischer" Hedda Gabler erschießt sich im vierten Akt. Besser wäre es, sie würde schon im ersten beseitigt" Zu Ibsens "Gespenster" meinte Thüringens Gauleiter Fritz Sauckel "Gerade das Deutsche Volk hat es dank des Kampfes Adolf Hitlers in seinem heutigem Staate nicht mehr nötig, auf seinen Bühnen Stücke der Entartung, der Zersetzung und der Hoffnungslosigkeit anzusehen und zu dulden ...Idioten auf der Bühne zu zeigen, lohnt nicht mehr.....Aus gesündestem Instinkt lehnt es das abnorme ab....". In diesen Apriltagen 1945 setzte sich Gauleiter Fritz Sauckel nach Salzburg ab, im Mai stellte er sich amerikanischen Behörden. Das Internationale Militärtribunal verurteilte ihn im Nürnberger Prozeß wegen Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode. Hauptsächlich für die Verschleppung von Millionen Zwangsarbeitern. Der amerikanische Hauptankläger Robert H. Jackson bezeichnete Sauckel als den „größten und grausamsten Sklavenhalter seit den ägyptischen Pharaonen“.


Rund um und in Salzzungen waren nicht wenig Elemente einer völligen Entartung, der Zersetzung und der Hoffnungslosigkeit, noch existent. In den Köpfen fast aller "Schönen Bürger", die bis zum letzten Tag bei aller Hoffnungslosigkeit noch an den Endsieg glaubten und nun amerikanische Soldaten wie Gestalten aus einem Faschingsumzug betrachteten. Alte Männer und viele junge Frauen standen neben ihren Arbeitssklaven aus ganz Europa , die die Arbeitsplätze ihrer Männer eingenommen hatten, als ging alles so weiter.

Neben Großvater stehen seine vier Arbeitsknechte aus Frankreich, die seit dem vierten April eigentlich frei  sind. Sie haben die gleichen Eisenbahnermützen auf, tragen die gleiche Lederschürze der Bahnarbeiter. Sie erzählen den amerikanischen Soldaten, dass sie nur noch warten, bis die Züge wieder nach Elsass-Lothringen fahren.  Großvaters Zwangsarbeiter lauern nur noch auf ein Papier aus dem Rathaus, das bescheinigt, die  Zwangsarbeit in Deutschland ist zu Ende. In einem Nachbardorf, dem Sorghof weigert sich eine Bäuerin ihre  Arbeitssklaven ziehen zu lassen, mit der Begründung, der Bürgermeister  hätte ihr versprochen sie bis zum  Wiederkehr ihres Mannes behalten zu dürfen. Ein Spähtrupp der Amerikaner erschoss ihre zwei halbwüchsigen  Kriegsschweine und nahm zwei junge Holländer in die Freiheit mit, die selber nicht glauben konnten, dass für  sie der Krieg zu Ende sei. Für die zwei Schweine bekam sie ein zweifach ausgefülltes amerikanisches  Reqiurierungsformular, für die zwei sehr jungen Holländer wurde ihr von einem amerikanischen Soldaten  zweifach vor die Füße gespuckt.